Das Ende, an dem ein neuer Anfang stand |
127 Suizidopfer unter 24 Jahren - eine erschreckende Bilanz. Eine junge Steirerin hat überlebt und hilft heute anderen. |
Sie sprang von der Reichsbrücke. Wollte sterben, aber überlebte. Das veränderte ihr Leben - und das anderer: Eine junge Steirerin versucht suizidgefährdeten Jugendlichen zu helfen. |
VON BEATE PICHLER
Eine intakte Familie. Freunde,
auf die man zählen kann. Eine gute Beziehung. Eine viel versprechende Ausbildung.
Alles, was das Herz begehrt. Möchte man meinen. Und trotzdem lief irgendetwas
schief.
Zunächst war es nur die vergebliche Suche nach einem Job. Der Frust darüber,
eine gute Ausbildung zu haben und nichts Adäquates zu finden. Zu kellnern statt
sich sozial zu engagieren.
Aber selbst, als es dann doch klappte, lösten sich die Probleme für Claudia (Name von der Redaktion geändert) nicht. Im Gegenteil. Es kamen neue. Andere. Und das Gefühl, bisher alles geschafft zu haben - und plötzlich überhaupt nichts mehr.
"Ein Schock." Einer, der tief saß und sich immer tiefer in die Seele grub. Den nächsten Job schmiss die Steirerin, damals Anfang 20, bereits selbst. Und das schon nach wenigen Wochen, in denen es "jeden Tag schlimmer" wurde: "Ich habe mir nichts zugetraut, habe das Gefühl gehabt, nicht akzeptiert zu werden" - und obwohl man sie zu überreden versuchte, doch zu bleiben, ging sie.
Unfähig, die eigenen Ängste überhaupt zu artikulieren. Claudia schlitterte langsam in die Depression. Je größer die Angst vor dem Versagen wurde, desto furchtbarer erlebte sie es. Jedes noch so kleine Missgeschick wurde plötzlich zu einer persönlichen Katastrophe. Und seis nur ein falsch geparkter, abgeschleppter Wagen.
Doch wie soll man das erklären? "Ich hätte zwar viele gehabt, mit denen ich reden hätte können. Aber ich habe es nicht gemacht."
Die Situation wurde immer auswegloser. Und so flüchtete die Steirerin das erste Mal. Zunächst ins Ausland, ohne irgendjemandem ein Sterbenswörtchen zu sagen. Und dann, nach der Rückkehr, in der sich alte Ängste und neue Schuldgefühle zu einer schweren Depression entwickelten, in den ersten Selbstmordversuch. Psychopharmaka, hinuntergespült mit Alkohol.
Claudia wachte in der Sigmund-Freud-Nervenklinik wieder auf. Und erinnert sich heute noch mit Schaudern an die ersten vier Tage auf der "Geschlossenen". "Es war ganz, ganz schrecklich."
Entlassung. Depression. Der zweite Versuch. Diesmal spielte der Körper gar nicht mehr mit - ließ sich die tödliche Mischung nicht mehr verpassen. Kotzte im wahrsten Sinne des Wortes alles aus.
Claudia unterzog sich freiwillig einer Behandlung. Und stieß dabei - vermittelt über ihre Mutter - das erste Mal auf WeiL (siehe nebenstehenden Kasten). Auf eine Gruppe engagierter Menschen, die sich in der Steiermark um suizidgefährdete Jugendliche kümmert. Ein erster Schritt.
Und doch. Plötzlich war er wieder da, der Boden unter den gebrochenen Füßen. Und langsam bekam das Leben wieder einen Sinn. "Es klingt paradox, aber seit dem Sprung von der Brücke ist es wieder bergauf gegangen. Ich habe es dreimal probiert, es hat nicht geklappt. Vielleicht, habe ich mir gedacht, habe ich doch noch eine Aufgabe zu erfüllen." Es ging. Langsam,
aber es ging. Dass der Weg bis dahin ein weiter gewesen ist, beschönigt Claudia nicht. Hartes körperliches Training auf der einen Seite, Auseinandersetzung mit sich und seiner Vergangenheit auf der anderen - das kostet oft Überwindung und tut manchmal ganz schön weh. Doch es hat sich gelohnt. Mittlerweile gehört die Frau auch zum Beraterteam von WeiL. Bringt sich und ihre Erfahrungen ein (unter anderem in der neuen WeiL-Homepage, für die sie verantwortlich zeichnet). Hilft anderen - und sich selbst. "Meine ganze Einstellung hat sich verändert zum Leben. Ich habe vorher eine fixe Linie gehabt. Habe mir gedacht, ich muss jedes Ziel erreichen - wenn nicht, akzeptiert mich die Gesellschaft nicht. Heute weiß ich, wenn dieser Weg nicht geht, gehe ich halt einen anderen." Und: "Mich bringt nicht mehr so schnell etwas aus der Reihe." http://druck.kleinezeitung.at/steiermark/ARTIKEL?whichone=1027016 |
DIE GRUPPE WEIL WeiL versucht, gefährdete Jugendliche aufzufangen. Die Gruppe WeiL
(Weiter im Leben) hat es sich zur Aufgabe gemacht, suizidgefährdeten Jugendlichen
in der Steiermark zu helfen. http://druck.kleinezeitung.at/steiermark/ARTIKEL?whichone=1027011 |
DIE SUIZID-STATISTIK Österreichweit
http://druck.kleinezeitung.at/steiermark/ARTIKEL?whichone=1027020 |
DIE WARNZEICHEN Jugendliche in seelischer Not geben - so die Erfahrung - oft klare Warnzeichen, die vielfach aber erst gedeutet werden können, wenn es zu spät ist:
http://druck.kleinezeitung.at/steiermark/ARTIKEL?whichone=1027021 |
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Quelle:Kleine Zeitung, 18.3.2001