StGN 11/12/2010, S 9 - 10
Robert Koch
Nachsicht von Gemeindeabgaben
Überblick:
Abgabenverfahrensrechtlich versteht man unter „Nachsicht“ eine (antragsgebundene) gänzliche oder teilweise Abschreibung einer fälligen (unter Umständen sogar schon entrichteten) Abgabenschuldigkeit, sodass der von der Nachsicht betroffene Abgabenbetrag nicht mehr zu entrichten (bzw. sogar zurück zu zahlen) ist.
Beim Abschluss von schon lange dauernden Abgabenverfahren, bei hohen Abgabenrückständen, bei zeitlich gesehen bereits lange aushaftenden Abgabenschulden und bei bevorstehenden zwangsweisen Einbringungsmaßnahmen werden von Abgabepflichtigen und deren Parteienvertreter immer wieder Nachsichtsanträge oder Anbringen, welche als solche zu werten sind, eingebracht. Diese sind oft auch als Anträge auf gänzliche oder teilweise „Erlassung“ einer Abgabenschuld ausformuliert oder als Ansinnen, welche beantragen, von der Einhebung bzw. Einbringung von Abgabenrückständen ganz oder teilweise Abstand zu nehmen. Solche Anbringen müssen natürlich grundsätzlich schriftlich eingereicht werden.
Verfahrensrechtlicher und inhaltlicher Rahmen
Die verfahrensrechtliche Zuständigkeit zur Behandlung eines Nachsichtsansuchens trifft – basierend auf § 44 Abs. 1 lit. d Steiermärkische Gemeindeordnung 1967 – GemO, LGBl. Nr. 115/1967 in der Fassung LGBl. Nr. 30/2010 – den Gemeindevorstand (bzw. in Stadtgemeinden den Stadtrat).
Die Erledigung des Anbringens hat im Sinne des § 311 Bundesabgabenordnung - BAO, BGBl. Nr. 194/1961 in der Fassung BGBl. I Nr. 34/2010, verpflichtend ohne unnötigen Aufschub in einem erstinstanzlichen Bescheid zu erfolgen; nach sechs Monaten wäre ein Devolutionsantrag zulässig.
Gegen den das Nachsichtsansuchen abhandelnden Bescheid ist das Rechtsmittel der Berufung (an den Gemeinderat) zulässig.
Die gesetzlich bestimmten inhaltlichen Vorgaben der Voraussetzungen für die Gewährung einer Nachsicht sind sehr kurz und abschließend in § 236 Abs. 1 BAO angeführt: „Fällige Abgabenschuldigkeiten können auf Antrag des Abgabepflichtigen ganz oder zum Teil durch Abschreibung nachgesehen werden, wenn ihre Einhebung nach der Lage des Falles unbillig wäre.“ Natürlich „produzieren“ gerade im Gesetz nicht besonders präzisierte Voraussetzungen und Sachverhalte durch deswegen viele denkmögliche subjektive Sichtweisen vorerst umfangreiche Auslegungsvarianten, sodass dieser Bereich bereits seit langem auf Grund zahlreicher (bzw. beinahe zahlloser) höchstgerichtlicher Erkenntnisse bestens ausjudiziert ist.
Exkurs: Von der Nachsicht zu unterscheiden sind – als weitere verfahrensrechtliche Instrumente mit der Wirkung einer nicht oder nicht sofort erfolgenden Einbringlichmachung von ausständigen Abgabenschulden – die Abschreibung durch Löschung, die Abschreibung zweifelhafter Forderungen, die Gewährung von Zahlungserleichterungen, die Entlassung aus der Gesamtschuld, aber auch die Aussetzung der Einhebung oder die Aussetzung der Einbringung.
Allgemeine Voraussetzungen für die Gewährung einer Nachsicht
Aus der höchstgerichtlichen Rechtsprechung ergeben sich für den Vollzug dieser Gesetzesbestimmung zusammen gefasst folgende Voraussetzungen und Anhaltspunkte:
Die Beurteilung, ob eine persönlich oder sachlich bedingte Unbilligkeit vorliegt, ist eine Frage der Auslegung eines unbestimmten Gesetzesbegriffes – allerdings trotz der Ausformulierung als „Kann-Bestimmung“ nur im Rahmen des sogenannten „pflichtgemäßen Ermessens“, welches sich unbedingt an der Rechtsprechung zu orientieren und dessen Ausübung im Ergebnis nachvollziehbar begründet zu werden hat.
Persönlich bedingte Unbilligkeit der Abgabeneinhebung
Die persönliche bedingte Unbilligkeit der Abgabeneinhebung muss mit der wirtschaftlichen Situation des Nachsichtswerbers zusammen hängen. Dies wäre etwa der Fall, wenn ein wirtschaftliches Missverhältnis zwischen der Einhebung der Abgabe und den für den Abgabepflichtigen entstehenden Nachteilen besteht. Davon ist in Situationen auszugehen, wo die Einhebung der Abgabe die Existenz des Abgabepflichtigen oder seiner Familie gefährdet.
Ist hingegen die finanzielle Situation des Abgabenschuldners jedoch so schlecht, dass die Gewährung der beantragten Nachsicht nichts an der Existenzgefährdung ändert oder dass sie keinen Sanierungseffekt haben wird, liegt keine Unbilligkeit der Abgabeneinhebung vor.
Existenzgefährdung ist zwar keine grundsätzliche Voraussetzung für die Gewährung einer Nachsicht, doch muss die Abstattung der Abgabenschuld mit außergewöhnlichen wirtschaftlichen Auswirkungen verbunden sein (etwa dass zur Begleichung der Abgabenschuld Vermögenswerte praktisch verschleudert werden müssten). Die Verwertung von Besitz (Liegenschaften, Sachwerte) ist aber jedenfalls zuzumuten!
Maßgeblich für die Beurteilung, ob persönlich bedingte Unbilligkeit vorliegt, sind die Vermögens- und Einkommensverhältnisse zum Zeitpunkt der Entscheidung über das Nachsichtsansuchen.
Sachlich bedingte Unbilligkeit der Abgabeneinhebung
Sachlich bedingte Unbilligkeit der Abgabeneinhebung liegt vor, wenn im Einzelfall ein vom Gesetzgeber offenbar nicht beabsichtigtes Ergebnis eintritt, sodass es – verglichen mit ähnlichen Fällen – durch das ungewöhnliche Entstehen einer Abgabenschuld zu einer anormalen Belastungswirkung und zu einem atypischen, unproportionalen Vermögenseingriff kommt.
Dieser offenbare Widerspruch der Rechtsanwendung muss seine Ursache in einem außergewöhnlichen Geschehensablauf haben, welcher eine vom Steuerpflichtigen allgemein nicht zu erwartende Steuerbelastung bewirkt hat, welche auch ihrer Höhe nach zum auslösenden Sachverhalt unverhältnismäßig ist. (Die Rechtsprechung nennt in diesem Zusammenhang beispielsweise objektiv vom Gesetzgeber nicht beabsichtigte Doppelbesteuerungen, Steuerbelastungen von Gewinnanteilen mit mehr als 200 %, die Festsetzung von Säumniszuschlägen auslösende unvorhersehbare durch die Behörde verzögerte Umbuchungen, sich in Übergangsphasen der Rechtslage mehrfach negativ wirkende Gesetzesänderungen, welche weder in „alter“ noch in „neuer“ Rechtslage zu den eintretenden Steuerbelastungswirkungen führen würden oder Nachteile, welche aus sorgfältiger Disposition im Vertrauen auf letztendlich unrichtige Rechtsauskünfte der Abgabenbehörde entstanden sind – etwa wegen unrichtiger Behördenauskünfte, entschuldbaren Rechtsirrtums oder wegen Unzumutbarkeit unterbliebene aussichtslos erschienene Rechtsmittel.
Die allgemeine Auswirkung genereller Normen bzw. materiellrechtliche Regelungen, welche als unzulänglich oder ungerecht empfunden werden (können), aber auch wirtschaftspolitische Überlegungen, Auswirkungen des Unternehmerwagnisses, Forderungsausfälle, nicht auf den Kunden überwälzbare Abgaben, die Gefährdung von Arbeitsplätzen, steigende Kreditzinsen, Konjunkturschwankungen oder durch Dienstnehmer verursachte Vermögensschäden stellen nach der Rechtsprechung keine Unbilligkeiten im Sinne des § 236 Abs. 1 BAO dar.
Weitere zu berücksichtigende Umstände
Erst wenn alle Nachsichtsvoraussetzungen – darunter zumindest entweder eine persönlich bedingte oder eine sachlich bedingte Unbilligkeit der Abgabeneinhebung – gegeben sind, liegt die Bewilligung einer Nachsicht im Ermessen der zuständigen Abgabenbehörde.
Dabei ist dann auch das bisherige steuerliche Verhalten des Abgabepflichtigen zu berücksichtigen: Abgabenhinterziehung, aber auch anderweitiger Verbrauch zur Verfügung stehender Mittel trotz offener Abgabenschuldigkeiten, mangelnde Vorsorge für die fristgerechte und vollständige Abgabenentrichtung, jahrelange Verletzung von Zahlungspflichten gegenüber der Abgabenbehörde, unterbliebene Einreichung der Abgabenerklärungen für Selbstberechnungsabgaben, Buchführungsmängel, Verletzungen der abgabenrechtlichen Anzeige-, Offenlegungs- und Wahrheitspflichten über mehrere Jahre, Auswirkungen einer Ungleichbehandlung von Abgabepflichtigen, mangelnde auch im Interesse des Abgabengläubigers liegende Ermöglichung der wirtschaftlichen Erholung eines Steuerpflichtigen und die damit verbundene Erhaltung der Steuerquelle würden sogar trotz persönlich oder sachlich bedingter Unbilligkeit gegen die Gewährung einer Nachsicht sprechen!
Abschließende Bemerkung
Aus der Erfahrung kann den entscheidenden Behörden erster und zweiter Instanz nur geraten werden, sich eingehend mit den Argumenten der Nachsichtsanträge auseinander zu setzen und diese – nachdem es begründend oft um sehr persönliche Umstände geht – sehr nüchtern und analytisch anhand der oben angeführten in der Judikatur entwickelten Grundsätze zu untersuchen und möglichst wertfrei zu würdigen, um zu einem nachvollziehbaren Ergebnis im Spruch des Bescheides zu gelangen.
Bei Bedarf können wir unseren Mitgliedsgemeinden für die Behandlung von Einzelfällen auf Anforderung auch eine umfangreiche Sammlung von höchstgerichtlicher Judikatur zum Thema der Voraussetzungen für die Gewährung einer Nachsicht zur Verfügung stellen.
Einem Nachsichtsansuchen kann schließlich auch teilweise statt gegeben werden, falls dies nach Abwägung aller Umstände als sachgerechteste Lösung erscheint.
Robert Koch, 23.7.2010