VwGH Erkenntnis 2000/16/0296 vom 19.6.2000

Rechtssatz

Der Begriff "Rechtsbehelf" findet im Gemeinschaftsrecht (betreffend verwaltungsbehördliche Verfahren) zB in Art 243 Zollkodex (Verordnung (EWG) Nr 2913/92 des Rates zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften vom 12.10.1992 ABlEG Nr L 302 S 1), insb aber in verschiedenen Urteilen des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften Verwendung (Hinweis Urteil vom 15.1.1986 in der Rechtssache 41/84, Pinna, Slg 1986, 1, Randnr 29; Urteil vom 17.5.1990 in der Rechtssache C-262/88, Barber, Slg 1990, I-1889, Randnr 44; Urteil vom 15.12.1995 in der Rechtssache C-415/93, Bosman ua, Slg 1995, I-4921, Randnr 145). Der Gerichtshof bringt dabei zum Ausdruck, dass er darunter versteht, dass seitens der betroffenen Parteien "rechtzeitig Schritte zur Wahrung ihrer Rechte unternommen werden". Der Begriff Rechtsbehelf ist daher iSd zu gewährenden Rechtsschutzes möglichst weit zu verstehen (so auch Ehrke, Rückzahlung der Getränkesteuer, ÖStZ 15. Mai 2000, Nr 10, Seite 254ff). So wird dieser Begriff auch in der allgemeinen Verfahrensrechtslehre verwendet, und zwar als jedes prozessuale Mittel zur Verwirklichung eines Rechtes" (Hinweis Baumbach/Lauterbach, ZPO56 Rz 1 der Grdz zu 511 dZPO). In diesem Sinn hat die Beschwerdeführerin im vorliegenden Fall bereits im Wege ihrer verschiedenen an die Abgabenbehörde erster Instanz gerichteten Anträge auf Abgabenfestsetzung und Rückzahlung betreffend Getränkesteuer einen solchen Rechtsbehelf ergriffen und darf sie sich daher nach der klaren Anordnung des Punktes 3 des Spruches des Urteils des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften vom 9.3.2000 in der Rechtssache C-437/97 auch auf die Gemeinschaftsrechtswidrigkeit der Getränkesteuer berufen. Der VwGH ist in Anwendung der Grundsätze des EuGH-Urteils vom 6.10.1982, Rs 283/81, (EuGHE 1982, 3415) - C.I.L.F.I.T. - nicht nach Art 234 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft idF des Vertrages von Amsterdam vom 2. Oktober 1997, ABlEG Nr C 340/1; 1999 Nr L 114/56) zur Einholung einer Vorabentscheidung des EuGH verpflichtet. Er hat keine Zweifel an der richtigen Auslegung und Anwendung des einschlägigen Gemeinschaftsrechts und ist davon überzeugt, dass für die Gerichte der übrigen Mitgliedstaaten und für den EuGH die gleiche Gewissheit bestünde.

 

Volltext
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden
Senatspräsident Mag. Meinl und die Hofräte Dr. Steiner,
Dr. Fellner, Dr. Höfinger und Dr. Kail als Richter, im Beisein des
Schriftführers Mag. Valenta, über die Beschwerde der L GmbH in W,
vertreten durch Grohs-Hofer & Partner, Rechtsanwälte in Wien I,
Helferstorferstraße 4, gegen den Bescheid der Berufungskommission
der Landeshauptstadt Graz vom 7. Februar 2000,
Zl. A 8 R-K 699/1992-2, betreffend Getränke- und Speiseeisabgabe
für die Zeit von 1. Jänner 1999 bis 30. Juni 1999, zu Recht erkannt:

Spruch
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines
Inhaltes aufgehoben.
Die Stadt Graz hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der
Höhe von S 15.000,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu
ersetzen.

Begründung
Mit Anträgen vom 11. März, 13. April, 12. Mai, 26. Mai und
25. Juni 1999 begehrte die Beschwerdeführerin jeweils die
bescheidmäßige Festsetzung der Getränkesteuer (insgesamt für die
Monate Jänner bis Juni 1999) und die Rückzahlung der entrichteten
Abgaben mit der Begründung der "EU-Widrigkeit" dieser Abgabe, wobei
ausdrücklich auf das damals beim Gerichtshof der Europäischen
Gemeinschaften anhängige Verfahren in der Rechtssache C-437/97
Bezug genommen wurde.
Daraufhin erließ die Abgabenbehörde erster Instanz am
27. August 1999 einen Bescheid, mit dem die Getränke- und
Speiseeisabgabe für den in Rede stehenden Zeitraum mit
S 3,379.112,-- festgesetzt und der Rückzahlungsantrag abgewiesen
wurde.
Dagegen berief die Beschwerdeführerin mit der Behauptung der
Gemeinschaftsrechtswidrigkeit der Abgabenfestsetzung. Die
Abgabenbehörde erster Instanz gab der Berufung mit
Berufungsvorentscheidung vom 28. September 1999 keine Folge, worauf
die Beschwerdeführerin unter Aufrechterhaltung ihres Arguments die
Vorlage der Berufung an die Abgabenbehörde zweiter Instanz
beantragte.
Die belangte Behörde wies die Berufung als unbegründet ab,
wobei sie die Auffassung vertrat, die Erhebung der Getränkesteuer
stünde nicht im Gegensatz zum Gemeinschaftsrecht.
Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende (am
23. März 2000 zur Post gegebene) Beschwerde wegen Rechtswidrigkeit
des Inhalts. Die Beschwerdeführerin erachtet sich in ihrem Recht
auf Nichtvorschreibung der Getränkesteuer und auf Stattgebung ihres
Rückzahlungsantrages verletzt.
Die belangte Behörde machte von der ihr gebotenen Möglichkeit
einer Klaglosstellung keinen Gebrauch, legte die Akten des
Verwaltungsverfahrens vor und erstattete eine Gegenschrift, in der
die kostenpflichtige Abweisung der Beschwerde als unbegründet
beantragt wird. Die belangte Behörde steht dazu auf dem Standpunkt,
die Beschwerdeführerin könne sich nicht auf das Urteil des
Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften vom 9. März 2000 in
der Rechtssache C-437/97 berufen, weil sie die
Verwaltungsgerichtshofbeschwerde erst nach dem Ergehen dieses
Urteiles erhoben habe.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
Der Spruch des zitierten Urteils des Gerichtshof der
Europäischen Gemeinschaften lautet auszugsweise:
"2. Artikel 3 Absatz 3 der Richtlinie 92/12/EWG des Rates vom
25. Februar 1992 über das allgemeine System, den Besitz, die
Beförderung und die Kontrolle verbrauchsteuerpflichtiger Waren
steht der Beibehaltung einer auf alkoholfreie Getränke und
Speiseeis erhobenen Steuer wie der im Ausgangsverfahren streitigen
nicht entgegen. Artikel 3 Absatz 2 dieser Richtlinie steht jedoch
der Beibehaltung einer auf alkoholische Getränke erhobenen Steuer
wie derjenigen entgegen, um die es im Ausgangsverfahren geht.
3. Niemand kann sich auf Artikel 3 Absatz 2 der Richtlinie
92/12 berufen, um Ansprüche betreffend Abgaben wie die Steuer auf
alkoholische Getränke, die vor Erlass dieses Urteils entrichtet
wurden oder fällig geworden sind, geltend zu machen, es sei denn,
er hätte vor diesem Zeitpunkt Klage erhoben oder einen
entsprechenden Rechtsbehelf eingelegt."
Die belangte Behörde übersieht in diesem Zusammenhang, dass
der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften nicht nur
demjenigen das Recht einräumt, sich auf Art. 3 Abs. 2 der RL 92/12
zu berufen, der vor dem Zeitpunkt der Erlassung seines Urteiles
"Klage erhoben" (das heißt den Anspruch von einem der Gerichtshöfe
des öffentlichen Rechtes erhoben) hat, sondern auch demjenigen, der
vor diesem Zeitpunkt "einen entsprechenden Rechtsbehelf" eingelegt
hat.
Der Begriff "Rechtsbehelf" findet im Gemeinschaftsrecht
(betreffend verwaltungsbehördliche Verfahren) z.B. in Artikel 243
Zollkodex (Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 des Rates zur Festlegung
des Zollkodex der Gemeinschaften vom 12. Oktober 1992 ABlEG
Nr. L 302 S. 1), insbesondere aber in verschiedenen Urteilen des
Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften Verwendung (vgl.
Urteil vom 15. Januar 1986 in der Rechtssache 41/84, Pinna,
Slg. 1986, 1, Randnr. 29; Urteil vom 17. Mai 1990 in der
Rechtssache C-262/88, Barber, Slg. 1990, I-1889, Randnr. 44; Urteil
vom 15. Dezember 1995 in der Rechtssache C-415/93; Bosman u.a.,
Slg. 1995, I-4921, Randnr. 145 u.a.). Der Gerichtshof bringt dabei
zum Ausdruck, dass er darunter versteht, dass seitens der
betroffenen Parteien "rechtzeitig Schritte zur Wahrung ihrer Rechte
unternommen werden". Der Begriff Rechtsbehelf ist daher im Sinne
des zu gewährenden Rechtsschutzes möglichst weit zu verstehen (so
auch Ehrke, Rückzahlung der Getränkesteuer, ÖStZ 15. Mai 2000,
Nr. 10, Seite 254ff). So wird dieser Begriff auch in der
allgemeinen Verfahrensrechtslehre verwendet, und zwar als jedes
prozessuale Mittel zur Verwirklichung eines Rechtes"
(Baumbach/Lauterbach, ZPO56 Rz 1 der Grdz zu § 511 dZPO).
In diesem Sinn hat aber die Beschwerdeführerin im vorliegenden
Fall bereits im Wege ihrer verschiedenen an die Abgabenbehörde
erster Instanz gerichteten Anträge auf Abgabenfestsetzung und
Rückzahlung einen solchen Rechtsbehelf ergriffen und darf sie sich
daher nach der klaren Anordnung des Punktes 3 des Spruches des oben
zitierten Urteils des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften
daher auch auf die Gemeinschaftsrechtswidrigkeit der Getränkesteuer
berufen.
Der Verwaltungsgerichtshof hat in seinen auf Grund des Urteils
des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften vom 9. März 2000
in der Rechtssache C-437/97 ergangenen Erkenntnissen vom
30. März 2000, Zl. 2000/16/0117 (vormals: Zl. 97/16/0221), und
Zl. 2000/16/0116 (vormals: Zl. 97/16/0021), ausgeführt, dass die
belangte Behörde, wenn sie auf Basis des von ihr angewendeten
innerstaatlichen Rechts die Vorschreibung der Getränkesteuer auf
alkoholische Getränke billigte, ihren Bescheid mit Rechtswidrigkeit
seines Inhaltes belastet habe. Dies ist auch im hier zu
beurteilenden Fall erfolgt, weshalb der angefochtene Bescheid aus
diesem Grund gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG aufzuheben war.
Im Hinblick auf die Frage, inwieweit durch rückwirkend
erlassene landesgesetzliche Bestimmungen die sich aus Punkt 3 des
EuGH-Urteils ergebende Rückzahlungspflicht davon abhängig gemacht
wird, wer die Abgabe wirtschaftlich getragen hat, wird auf die
ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes verwiesen,
dass es für den anzuwendenden Prüfungsmaßstab unbeachtlich ist,
wenn der Gesetzgeber das von der Behörde angewendete Gesetz nach
Erlassung des angefochtenen Bescheides (hier: mit der am
1. März 2000 in Kraft getretenen Novelle LGBl. Nr. 13/2000), aber
vor der Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofes rückwirkend
ändert.
In Anwendung des § 43 Abs. 2 zweiter Satz VwGG wird auf die
Entscheidungsgründe der genannten Erkenntnisse verwiesen.
Der Verwaltungsgerichtshof ist in Anwendung der Grundsätze des
EuGH-Urteils vom 6. Oktober 1982 Rs. 283/81 (EuGHE 1982, 3415)
- C.I.L.F.I.T. - nicht nach Art. 234 Abs. 3 des Vertrages zur
Gründung der Europäischen Gemeinschaft i.d.F. des Vertrages von
Amsterdam vom 2. Oktober 1997, ABlEG Nr. C 340/1; 1999
Nr. L 114/56) zur Einholung einer Vorabentscheidung des EuGH
verpflichtet. Er hat keine Zweifel an der richtigen Auslegung und
Anwendung des einschlägigen Gemeinschaftsrechts und ist davon
überzeugt, dass für die Gerichte der übrigen Mitgliedstaaten und
für den EuGH die gleiche Gewissheit bestünde.
Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die
§§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung BGBl. Nr. 416/1994.

Wien, am 19. Juni 2000

RIS-Dokumentnummern: JWR/2000160296/20000619X01, JWT/2000160296/20000619X00


Nachstehende Beschwerde(n) wurde(n) im gleichen Sinn erledigt:
2000/16/0258 E 19. Juni 2000
2000/16/0295 E 19. Juni 2000
2000/16/0297 E 11. Juli 2000