VfGH-Erkenntnis B 1479/99 vom 15.12.1999

Leitsatz
Anlaßfallwirkung der Aufhebung des §25 Abs2 letzter Satz Tir BauO
1998, LGBl 15/1998, mit E v 01.10.99, G73/99.


Spruch
Die Beschwerdeführer sind durch den angefochtenen Bescheid
wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes in ihren
Rechten verletzt worden.

Der Bescheid wird aufgehoben.

Das Land Tirol ist schuldig, den Beschwerdeführern zu Handen
ihrer Rechtsvertreter die mit S 32.200,- bestimmten Prozeßkosten
binnen 14 Tagen bei Exekution zu bezahlen.


Begründung
Entscheidungsgründe:

I. 1. Mit Bescheid vom 13. November 1998 erteilte der
Bürgermeister der Stadtgemeinde Kitzbühel Mag. P und H K die
Baubewilligung für die Errichtung eines Büro- und Wohnhauses mit
drei Tiefgaragenebenen und einem Freizeitbereich mit Erlebnisbad
auf Gst. 194/1 KG Kitzbühel-Stadt. Durch das Bauvorhaben werden
im Bereich der Zu- und Abfahrtsrampen der Tiefgarage auch die
Gste. .156 und 589/1, beide KG Kitzbühel-Stadt, berührt. Die
Einwendungen der Nachbarn wurden von der Berufungsbehörde als
unzulässig zurückgewiesen.

Die von den Beschwerdeführern erhobene Vorstellung wurde am
20. Juli 1999 von der Tiroler Landesregierung als unbegründet
abgewiesen. In der Begründung wurde unter anderem ausgeführt, daß
den Beschwerdeführern hinsichtlich der auf den Gste. 194/1 und
.156 KG Kitzbühel-Stadt vorgesehenen Baumaßnahmen aufgrund der
Lage ihres Grundstückes (Gst. .178) keine Parteistellung zukomme.
Hinsichtlich der auf Gst. 589/1 KG Kitzbühel-Stadt vorgesehenen
Maßnahmen seien die Beschwerdeführer zwar als Nachbarn im Sinne
des §25 Abs2 TBO 1998 anzusehen, jedoch gemäß dieser Bestimmung
sei ihr Mitspracherecht auf die Einhaltung der
Abstandsbestimmungen gemäß §6 TBO beschränkt.

2. Gegen diesen Bescheid richtet sich die auf Art144 Abs1
B-VG gestützte Beschwerde der Nachbarn, in der die Verletzung in
Rechten wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm
(§25 Abs2 letzter Satz Tiroler Bauordnung 1998, LGBl.
Nr. 15/1998) behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des
angefochtenen Bescheides beantragt wird.

3. Die Tiroler Landesregierung als belangte Behörde legte die
Verwaltungsakten vor und erstattete eine Gegenschrift, in der sie
vorbringt, daß die Beschwerdeführer mangels einer gegebenen
Beschwer nicht legitimiert seien, hinsichtlich der auf Grundstück
194/1 KG Kitzbühel-Stadt vorgesehenen baulichen Maßnahmen die
angebliche Verfassungswidrigkeit der Bestimmung des §25 Abs2
zweiter Satz TBO 1998 geltend zu machen, da die Beschwerdeführer
nur bezüglich des Grundstückes 598/1 KG Kitzbühel-Stadt - auf dem
auch Baumaßnahmen stattfinden - Nachbarn im Sinne des §25 Abs2
1. Satz TBO 1998 seien und beantragt die Zurück- bzw. Abweisung
der Beschwerde.

4. Die mitbeteiligten Parteien erstatteten eine Äußerung, in
der sie beantragen, der Beschwerde keine Folge zu geben und den
beteiligten Parteien Kostenersatz im gesetzlichen Ausmaß
zuzusprechen.

5. Mit amtswegigem Beschluß vom 27. Februar 1999, B2126/98
leitete der Verfassungsgerichtshof das Verfahren zur Prüfung der
Verfassungsmäßigkeit des §25 Abs2 letzter Satz Tiroler
Bauordnung 1998, LGBl. Nr. 15/1998 ein. Mit Erkenntnis vom
1. Oktober 1999, G73/99, hat der Verfassungsgerichtshof diese
Bestimmung als verfassungswidrig aufgehoben.

II. 1. Gemäß Art140 Abs7
B-VG wirkt die Aufhebung eines Gesetzes auf den Anlaßfall zurück.
Es ist daher hinsichtlich des Anlaßfalles so vorzugehen, als ob
die als verfassungswidrig erkannte Norm bereits zum Zeitpunkt der
Verwirklichung des dem Bescheid zugrundegelegten Tatbestandes
nicht mehr der Rechtsordnung angehört hätte.

Dem in Art140 Abs7 B-VG genannten Anlaßfall (im engeren
Sinn), anläßlich dessen das Gesetzesprüfungsverfahren tatsächlich
eingeleitet worden ist, sind all jene Beschwerdefälle
gleichzuhalten, die zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung im
Gesetzesprüfungsverfahren (bei Unterbleiben einer mündlichen
Verhandlung zu Beginn der nichtöffentlichen Beratung) beim
Verfassungsgerichtshof bereits anhängig waren (VfSlg.
10616/1985, 11711/1988).

Die nichtöffentliche Beratung im Gesetzesprüfungsverfahren zu
G73/99 begann am 1. Oktober 1999. Die vorliegende Beschwerde ist
beim Verfassungsgerichtshof am 2. September 1999 eingelangt, war
also zum Zeitpunkt des Beginns der nichtöffentlichen Beratung im
Verfahren zu G73/99 schon anhängig; der Fall ist somit einem
Anlaßfall gleichzuhalten.

Die belangte Behörde wendete bei Erlassung des angefochtenen
Bescheides die als verfassungswidrig aufgehobene
Gesetzesbestimmung an. Es ist nach Lage des Falles nicht
ausgeschlossen, daß diese Gesetzesanwendung für die
Rechtsstellung der Beschwerdeführer nachteilig war. Die
Beschwerdeführer wurden somit wegen Anwendung eines
verfassungswidrigen Gesetzes in ihren Rechten verletzt.

Der Bescheid ist daher aufzuheben.

2. Von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung wurde
gemäß §19 Abs4 Z3 VerfGG 1953 abgesehen.

3. Die Kostenentscheidung gründet sich auf §88 VerfGG 1953.
In den zuerkannten Kosten sind ein Streitgenossenzuschlag in der
Höhe von S 2.250,-, Umsatzsteuer in der Höhe von S 4.950,- und
eine Eingabegebühr in Höhe von S 2.500,- enthalten. Den
mitbeteiligten Parteien war der Ersatz der Kosten für die
Erstattung ihrer Äußerung nicht zuzusprechen, da sie zur
Rechtsfindung keinen Beitrag leisten konnte (vgl. VfSlg.
10228/1984).



RIS-Dokumentnummer: JFT/10008785/99B01479